Research to Business

Virtueller Fahrlehrer für Megacities

Prof. Jivka Ovtcharova und ihr Forscherteam entwickeln gemeinsam mit chinesischen Partnern einen virtuellen Fahrtrainer für Fahrschulen in China. Ein umgerüstetes Fahrzeug und aufwendige Projektionstechnik ermöglichen wirklichkeitsnahe Fahrübungen.

Polina Häfner und Prof. Jivka Ovtcharova (v.l.n.r.) präsentieren den Prototyp des virtuellen Fahrlehrers DriveSim. (Bild: Patrick Langer / KIT)

Text | Einleitung

Schema

Gerade in bevölkerungsreichen Städten und Regionen stehen Fahrschulen vor der Herausforderung, eine stetig wachsende Anzahl an Fahrschülern bedienen zu können. „In China begegnet man dieser Nachfrage mit vorgeschriebenen Trainingsstunden in Fahrsimulatoren. Nur wer eine Mindestanzahl an Fahrstunden im Simulator mit bestimmten Fahrübungen erfolgreich absolviert hat, erhält seine Fahrerlaubnis“, führt Polina Häfner vom Institut für Informationsmanagement im Ingenieurwesen (IMI) am KIT aus. Eine virtuelle Fahrstunde ist jedoch nur dann zielführend, wenn Fahrschüler unter so realistischen Bedingungen wie nur möglich, die Simulation absolvieren.

In der Forschungsgruppe „Smart Immersive Environments“ am IMI beschäftigen sich die Wissenschaftler und Studierenden rund um Prof. Jivka Ovtcharova, Leiterin des Instituts, mit genau solchen intelligenten, virtuellen Umgebungen. „Wir wollen das Eintauchen in eine nicht existierende Umgebung durch Täuschung der menschlichen Sinne mit technischen Geräten im Sinne von Augmented und Mixed Reality erreichen. Wir betreiben keine klassische Grundlagenforschung, sondern sind sehr nah an der Industrie. In den letzten Jahren haben wir uns dazu Know-how, leistungsfähige Infrastruktur und neuste Technik am Institut aufgebaut.“, fasst Prof. Ovtcharova zusammen. Bereits 2010 begannen am Institut die ersten Arbeiten zur Fahrsimulation: Eine Art Sitzkiste mit Autositz, Lenkrad und Pedalen wurde zu einem Fahrsimulator aufgebaut. Durch glückliche Fügung erhielt die Forschungsgruppe 2015 einen echten Kleinwagen, um den Fahrsimulator zu professionalisieren. „Obwohl es schwierig war, das Auto ohne Motor in die Räumlichkeiten am Institut zu transportieren, hat sich der Aufwand gelohnt. Es macht Spaß und motiviert, mit echten Produkten zu arbeiten“, unterstreicht die Wissenschaftlerin Häfner.

Rund um das Kraftfahrzeug wird die dreidimensionale, künstliche Welt mittels Leinwand oder Monitor präsentiert. Beim Blick aus dem Fenster oder in den Rückspiegel in einer Fahrsituation erhält der Fahrschüler so freie Sicht auf die naturnahe Fahrumgebung. (Bild: Patrick Langer / KIT)

China als Marktchance

Ein weiteres Schlüsselereignis für die Weiterentwicklung des Fahrsimulators war eine Begegnung mit einem Alumnus des KIT. Der studierte Ingenieur mit chinesischen Wurzeln deckte auf einer Delegationsreise 2016 am KIT das Marktpotenzial auf: Mit einem Marktvolumen über 100 Milliarden für Fahrunterricht in China lieferte er gleich eine konkrete Geschäftsidee dazu – als virtueller Fahrlehrer in chinesischen Fahrschulen. „Ich habe zuerst gedacht, das wäre utopisch. In Deutschland würde so etwas wohl eher nicht zugelassen werden“, so Prof. Ovtcharova, „Aber der Markt und die Rahmenbedingungen in China machen es möglich.“ Chinesische Investoren und ein neugegründetes Unternehmen ebneten den Weg für die kommerzielle Nutzung des am KIT entwickelten Fahrsimulators.

Trotz anfänglicher sprachlicher Barrieren ging es schnell von der grundlegenden Technik über den Erstkontakt bis zur Kooperation im Rahmen des Technologietransfer-Projekts „DriveSim“ (Driving Simulator), in dem die Wissenschaftler des KIT mit den chinesischen Entwicklungspartnern TuoBaBa Technology (TBB) und dem Jiangyin Sino-German Technology Transfer Center als weiteren Kooperationspartner an der Umsetzung des virtuellen Trainers zusammenarbeiten. Hierbei war das KIT federführend bei der Hardwarekonfiguration und Softwarelösung, wohingegen die chinesischen Partner die Server-Infrastruktur vor Ort, die Fernwartung und die Anwendung für mobile Endgeräte vorbereiteten.

Fahrsimulation auf höchstem Niveau

Die Projektkoordinatorin Häfner macht deutlich: „Es gibt schon eine Reihe an Lösungen zur Fahrsimulation. Bislang basieren jedoch viele Lösungen auf fest programmierten bzw. künstlich erschaffenen Welten.“ Hierbei werden Strecken im Vorhinein, etwa nach Vorgaben eines Designers programmiert. Im Gegensatz dazu baut DriveSim auf Echtdaten aus Geoinformationssystemen (GIS) auf. Beim Befahren im Simulator baut der entwickelte Algorithmus die angrenzende Umgebung nahezu in Echtzeit als naturgetreue, virtuelle Welt auf – keine Fantasiewelten, sondern echte Landstriche, Gebäude und Straßensituationen. Häfner betont: „Wir setzen zudem auf eine gewohnte Mensch-Maschine-Schnittstelle in einem echten Fahrzeug. Hier sollen Fahrschüler dem Fahrgefühl so nah wie möglich kommen, indem sie Kräfte und Steuerungen, wie Lenkrad, Pedale oder Gangschaltung direkt und realistisch spüren.“

Um dieses möglichst realistische Fahrgefühl zu erreichen, wurde eine komplette Plattform mit Soft- und Hardware sowie entsprechende Schnittstellen zum Kraftfahrzeug realisiert. Der Eingriff ins Fahrzeug erfolgt über das sogenannte CAN-Bus (Controller Area Network) – ein fahrzeuginternes Steuergerät, das Sensoren und Aktoren verbindet sowie die Datenübertragung zwischen den Komponenten regelt. DriveSim nutzt dieses Netzwerk, um das unmotorisierte Fahrzeug bis hin zu Anzeigegeräten im Cockpit anzusteuern: „Jede Manipulation im Fahrzeug, wie Lenken, Gangschalten, Gas geben oder Bremsen, wird einerseits in die virtuelle Welt gespiegelt und andererseits mithilfe einer Force-Feedback-Technik, also Kraftrückkopplung, für den Fahrschüler spürbar“, erklärt Häfner.

Rund um das Fahrzeug sorgen Projektionen oder Monitore für den Blick in die dreidimensionale Welt, die virtuelle Realität. In Verbindung mit der entwickelten Virtual-Reality-Software können so wechselnde Fahrumgebungen generiert und abgebildet werden. Ein intuitives Autorenwerkzeug in Form einer App ist ebenso Teil des Projekts. Diese befähigt Fahrlehrer zukünftig, schnell und komfortabel die auf einen Schüler zugeschnittenen Verkehrsübungen zu konfigurieren. Damit während der Fahrt eine Verarbeitung in Echtzeit und die direkte Auswertung von Fahrverhalten möglich ist, liegt der gesamten Plattform bzw. Datensammlung – von statischen GIS-Daten bis zum dynamischen Fahrerverhalten – ein semantisches Datenmodell zugrunde. „Die technische Umgebung wurde im Verlauf des Projekts weiterentwickelt und validiert. So sind mittlerweile zwei Fahrzeuge zum Simulator umgebaut worden: Der Kleinwagen im Institut und in China ein Mittelklassewagen, wie er häufig in chinesischen Fahrschulen eingesetzt wird. Ein großer Meilenstein im Projekt wird noch sein, Fahrbahnunebenheiten zu simulieren und ein Beschleunigungsgefühl für den Fahrschüler spürbar zu machen“, berichtet die promovierte Maschinenbauerin und Informatikerin Prof. Ovtcharova.

Die Interaktion des Fahrschülers kann während der Fahrt getrackt werden. Der reale Fahrlehrer kann diese Auswertung nutzen, um Defizite durch individuell angepasste Fahraufgaben zu trainieren. (Bild: Patrick Langer / KIT)

Virtuell Fahren lernen

Trotz der virtuellen Fahrstunde ermöglicht der Fahrsimulator des KIT die intuitive Bedienung in einem echten Kraftfahrzeug. Beim Blick aus dem Fenster oder in einen Spiegel des Wagens findet man eine naturgetreue, dreidimensionale Welt vor, die bei Bedarf ein Abbild bekannter Straßenzüge aus der Nachbarschaft sein kann. Feedback und Lernunterstützung erhalten die Fahrschüler in Form einer speziellen Trainings-App: „Es ist möglich, mittels Tracking das Fahrverhalten aufzuzeichnen. Die App dokumentiert den Lernfortschritt des Schülers“, so Häfner, „Bei Bedarf werden in der App oder der virtuellen Welt unterstützende Hinweise zum Fahren angezeigt.“ Die Trainingsergebnisse stehen ebenso dem Fahrlehrer zur Auswertung zur Verfügung. Um einen allmählichen Lernfortschritt zu erzielen, können individuelle Trainingsaufgaben mit unterschiedlicher Komplexität von Verkehrsdichte, Wetterbedingungen und Straßenkonfigurationen zusammengestellt werden. Aktuell wird DriveSim für die Verwendung vor Ort in Fahrschulen entwickelt. Wird der Fahrsimulator angenommen, wäre das langfristige Ziel, mehrere Stationen im Stadtgebiet für die „Fahrstunde zwischendurch“ anzubieten.

Volle Fahrt voraus

„Neben dem Bedarf in China erreichen uns auch interessierte Rückfragen von deutschen Fahrschulen. Beispielsweise haben wir Kontakt zu einer Karlsruher Fahrschule, die aktuell rund 5 % chinesische Fahrschüler anlernt. Hier profitieren wir von dem spezialisierten Wissen des Fahrlehrers, das wir in der Lernumgebung mit einbauen können“, berichtet Häfner. Die virtuelle Fahrstunde kann durchaus auch für deutsche Fahrschulen einen Mehrwert bieten, indem zielgerichtet einzelne Fahraufgaben geübt werden können. Dies bietet sich vor allem für sehr junge Fahrschüler aber auch ältere Fahrer an, die nach längerer Fahrpause wieder fit für die Straße werden wollen. Prof. Ovtcharova schaut positiv in die Zukunft: „Die Wiederverwendungsmöglichkeiten unserer Entwicklung sind groß. Unsere Algorithmen und Software wären auch im Bereich autonomes Fahren ein Mehrwert. Gerade durch die Medienpräsenz erhoffen wir uns, dass es mit dem nächsten großen Thema weitergeht und sich Türen öffnen.“

DriveSim baut das virtuelle Abbild der Trainingsstrecke mithilfe von Echtdaten aus Geoinformationssystemen nahezu in Echtzeit auf. Wetter- und Lichtverhältnisse können angepasst werden und machen die Simulationen sehr realistisch. (Bild: Patrick Langer / KIT)
DriveSim baut das virtuelle Abbild der Trainingsstrecke mithilfe von Echtdaten aus Geoinformationssystemen nahezu in Echtzeit auf. Wetter- und Lichtverhältnisse können angepasst werden und machen die Simulationen sehr realistisch. (Bild: Patrick Langer / KIT)

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Bilder v.o.n.u: Patrick Langer / KIT

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