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Virtual first – Mit digitalem Zwilling die Bauplanung optimieren

Die WIBU-SYSTEMS AG, Arnold IT, archis Architekten + Ingenieure und das KIT leisten Pionierarbeit bei der Digitalisierung im Bau. In einem Neubauprojekt am Standort Karlsruhe machen sie sich die Virtualisierung der Bau- und Anlagenpläne zunutze, um vor und während der Bauphase die geplante Produktionsstätte und deren Wertströme zu optimieren.

Vier Projektpartner wollen im Rahmen des Projekts „DigiFab4KMU“ (Digitale Fabrik für kleine und mittlere Unternehmen) gemeinsam die Digitalisierung der Bauindustrie vorantreiben. Mit einem integrierten Virtualisierungssystem entsteht aus CAD-Planungsdaten im Handumdrehen eine virtuelle Fabrik. (Bild: ME Image / Shutterstock)
Vier Projektpartner wollen im Rahmen des Projekts „DigiFab4KMU“ (Digitale Fabrik für kleine und mittlere Unternehmen) gemeinsam die Digitalisierung der Bauindustrie vorantreiben. Mit einem integrierten Virtualisierungssystem entsteht aus CAD-Planungsdaten im Handumdrehen eine virtuelle Fabrik. (Bild: ME Image / Shutterstock)

Software für Kalkulation und Projektmanagement, Dokumentenmanagement und digitale Bauakten sowie Tools für die 2D- und 3D-Planung von Bauobjekten – dies sind nur einige Beispiele dafür, dass Digitalisierung für die Baubranche kein Fremdwort ist. Um steigenden Qualitäts- und Sicherheitsanforderungen, anziehenden Baustoffpreisen und knappen Personalressourcen zu begegnen, sind digitale Anwendungen sogar eine dringende Notwendigkeit. Im Projekt DigiFab4KMU (Digitale Fabrik für kleine und mittlere Unternehmen) gehen Forschende des KIT mit den Projektbeteiligten WIBU-SYSTEMS AG , archis Architekten + Ingenieure GmbH und ARNOLD IT Systems GmbH & Co. KG  noch einen Schritt weiter, indem sie während der Bauphase ein Virtualisierungssystem auf Basis der Forschungsarbeiten am Institut für Informationsmanagement im Ingenieurwesen (IMI)  des KIT einsetzen. Anhand eines digitalen Zwillings der geplanten Produktionshalle von Wibu-Systems werden Räumlichkeiten, Produktionsanlagen und Prozesse virtuell erprobt und optimiert.

Bei DigiFab4KMU trifft die digitale Transformation auf die Bauwirtschaft. Im Projekt entstand ein digitaler Zwilling des noch zu bauenden Firmenstandortes von Wibu-Systems. (Bild: KIT)

Digitales Bauen

In der Baubranche sind ganzheitliche, vernetzte Systeme – bekannt als Building Information Modeling (BIM) – bereits in vielen Bauprojekten im Einsatz. Dr. Michael Grethler, Leiter für Industrie 4.0 und Digital Twin am IMI, erzählt: „Mit einem BIM, zu Deutsch Gebäudedatenmodellierung, lässt sich ein Gebäude von Beginn an in 3D modellieren. Ob Fachplanung, Bauherrschaft oder Subunternehmen: Alle Beteiligten haben von Anfang an Zugriff auf sämtliche bauwerksrelevanten Informationen. Sowohl auf der Baustelle als auch im Planungsbüro greifen alle auf dieselbe Datenbasis zur Analyse und Planung zu.“ Obwohl laut einer Studie von PricewaterhouseCoopers International (PwC) ein Großteil der deutschen Baubetriebe von den Chancen der Digitalisierung überzeugt sei, ist der Sprung zur Virtualisierung für viele jedoch noch zu groß. Dr. Victor Häfner vom IMI, der federführend im Projekt DigiFab4KMU mitgearbeitet hat, beschreibt die Problematik: „Es gibt eine ganze Palette an Software-Tools, die VR-Modelle erstellen können. Diese haben bisher aber alle gemein, dass zur Bedienung ein gewisses Know-how nötig ist. Fehlt diese Expertise, ist der technische Aufwand zum Aufbau der dreidimensionalen Bauobjekte eine zu große Hürde.“

Grethler ergänzt: „Ebenfalls problematisch ist, dass beim virtuellen Abbild häufig nicht die Planungsdaten direkt zugrunde liegen, sondern das Modell dreidimensional nachgebaut wird. In der Praxis kommt es dadurch oft zu Abweichungen zwischen theoretischem 3D-Modell und seiner Realisierung.“ Das Forschungsteam am IMI hat sich zur Aufgabe gemacht, die Virtualisierung von CAD-Planungsdaten niederschwellig zu ermöglichen. Im Bereich BIM sei es das Ziel, alle Planungsdaten eines Neubaus in einem virtuellen Modell zusammenzuführen, zum Beispiel durch Kombination von 3D-Scans des Baufortschritts mit CAD-Plänen. Dabei wird das System PolyVR verwendet, das VR-Experte Häfner während seiner Promotion am KIT aufgebaut hat.

Im Projekt lag der Fokus auf einem Abbild der Produktionsstätte (Shopfloor), um die Produktionsabläufe und die Anlagentechnik virtuell durchzuspielen. (Bild: KIT)

VR im Handumdrehen

PolyVR ist ein Virtual-Reality-Autorensystem, das der nutzenden Person ermöglicht, immersive und interaktive virtuelle Welten dynamisch zu erstellen. „Unser Anspruch dabei ist, dass die Visualisierung auf Basis der vorliegenden Planungsdaten automatisch möglich ist. Wir wollen eine schlüsselfertige Lösung anbieten, die sich in das Ökosystem der KMU und Bauplaner integrieren lässt und dann eben per Knopfdruck solche virtuellen Abbilder erzeugt“, so Häfner. PolyVR verfügt über eine grafische Benutzeroberfläche, die die Erstellung komplexer virtueller Szenen und Welten erleichtert. Die Software bietet dabei gängige Virtual-Reality-Funktionen wie Clustering, Tracking und Scenegraph-Operationen.

Die Besonderheit ist jedoch, dass Mechanik, Kinematik und Verkabelung ebenfalls virtuell abgebildet werden können. Dadurch ist es nicht nur möglich, eine Produktionslinie zu virtualisieren, sondern auch die mechanischen Prozesse der Maschinen zu simulieren. Häfner macht deutlich: „Es geht darum, Planungsdaten und das Zusammenspiel der geplanten Komponenten und Materialflüsse sehr realistisch abzubilden und zu validieren – bis hin zur virtuellen Inbetriebnahme. Dabei fließen im System sehr viele Informationsebenen ein: von der Konstruktion, Elektrik und Verkabelung, über die Hydraulik und Pneumatik, Sensorik und Aktorik bis hin zur Automatisierung, bzw. SPS Programmierung. Im Hintergrund arbeitet das Tool mit Knowledge Bases, um eben diese ganzen Daten einzulesen, zu verarbeiten, zu integrieren bis hin zur virtuellen Maschine mit dem realistischen Verhalten.“

Im Projekt wurde die Fabrik- und Fertigungsplanung mithilfe eines digitalen Zwillings immersiv erlebbar. Neben den Gebäudedaten wurden auch Wertströme und Logistik in der Produktionslinie virtualisiert. (Institut für Informationsmanagement im Ingenieurwesen / KIT)

Im Projekt wurde die Fabrik- und Fertigungsplanung mithilfe eines digitalen Zwillings immersiv erlebbar. Neben den Gebäudedaten wurden auch Wertströme und Logistik in der Produktionslinie virtualisiert. (Institut für Informationsmanagement im Ingenieurwesen / KIT)

Im Projekt wurde die Fabrik- und Fertigungsplanung mithilfe eines digitalen Zwillings immersiv erlebbar. Neben den Gebäudedaten wurden auch Wertströme und Logistik in der Produktionslinie virtualisiert. (Institut für Informationsmanagement im Ingenieurwesen / KIT)

Im Projekt wurde die Fabrik- und Fertigungsplanung mithilfe eines digitalen Zwillings immersiv erlebbar. Neben den Gebäudedaten wurden auch Wertströme und Logistik in der Produktionslinie virtualisiert. (Institut für Informationsmanagement im Ingenieurwesen / KIT)

Mit dem entsprechenden VR-Equipment ist es möglich, die erzeugte virtuelle Fabrik im CAVE (Computer Automated Virtual Environment) zu erkunden. Das Beispiel zeigt, wie ein Nutzer mithilfe eines Pointers durch eine Fabrik navigiert. (Bild: Stadtmarketing Karlsruhe GmbH, Fotograf Daniel Schoenen)

Virtuelle Fabriken bauen

Mit der WIBU-SYSTEMS AG als Anwendender des Visualisierungsystems war der Praxisbezug im Projekt sehr hoch. Oliver Winzenried, einer der Gründer des Technologieunternehmens, gibt Einblick in die Vorgeschichte: „Wir haben ungefähr 2018 entschieden, dass wir am Standort Karlsruhe investieren wollen. Neben dem Firmensitz und einem ‚House of IT-Security‘ als Innovation Space sollte auch die Produktion am Standort angesiedelt werden. Noch bevor die neue Produktionsstätte vollständig aufgebaut war, konnten wir dank der Kooperation virtuell in die zu bauende Produktionshalle eintauchen und die Fabrikationsabläufe immersiv erleben. Das war wirklich sehr eindrucksvoll.“ Wibu-Systems ist Anbieter von Softwareschutz-, Lizenzierungs- und Security-Lösungen und errichtete mit dem Neubau eine eigene Fabrikation für die sogenannten CodeMeter Dongles – kleine USB-Sticks in Modellvarianten, auf denen kundenspezifische Berechtigungen und Lizenzinformationen gesichert werden. Höchste Qualität und einzelstückbezogene Nachverfolgbarkeit sind für die Kundschaft, wie herstellende Unternehmen für Medizingeräte, Industriesteuerungen oder Banking, elementar wichtig. Häfner beschreibt: „Den Produktionsbereich, in dem die CmDongles praktisch produziert und funktionsfähig gemacht werden, haben wir in einen digitalen Zwilling überführt, bevor er physisch gebaut wurde. Dadurch konnten die Bauherren die virtuelle Produktion mit allen Maschinen und Prüfautomaten durchlaufen und eingreifen.“ In der Simulation wurden auch Zukunftsthemen, wie der Einsatz fahrerloser Transportsysteme und Mensch-Maschine-Schnittstellen, berücksichtigt.

Planungsdaten validieren

Die Digitalisierung der Produktionsstätte diente dabei nicht dem Selbstzweck, sondern half die Produktionskette optimal auszulegen. Vorstand Winzenried bestätigt: „Indem die Produktion samt Anlagentechnik digital aufgebaut und virtuell durchgespielt werden konnte, haben wir Bau- und Planungsfehler frühzeitig entdeckt und korrigiert. Beispielsweise konnten wir die beste Positionierung von zwei großen Liftregalen mit den nötigen Deckendurchbrüchen mithilfe des virtuellen Abbilds ermitteln. Diese Durchbrüche sind ja kein Möbelstück, das ich verschieben kann und daher war es wichtig, das Gesamtbild mit der verbundenen Logistik, wie Durchgängen, Anlagenmodulen und Türen, durchzuspielen.“

Bis zu einem gewissen Punkt waren selbst die Maschinen und Wertströme digitalisiert. Besonders für die Arbeitsvorbereitung und die Maschinenarbeitsplätze mit Kleben und Ultraschallschweißen bot die Simulation die Chance, Wege und Wertströme optimal zu gestalten. „Im digitalen Zwilling haben wir eben alles positioniert und mögliche Lagerplätze berücksichtigt. Mit den zur Verfügung stehenden Produktions- und Anlagendaten haben wir eine detaillierte Wertstromanalyse gemacht. Das heißt, wir haben geschaut, wie sich Änderungen in der Prozesskette auf die Wege und Abläufe in der Produktion, auf die Zykluszeiten und die Stückzahlen in der Produktion auswirken“, berichtet Winzenried. In der Simulation seien Planungsfehler sehr gut sichtbar und damit noch ausmerzbar gewesen. Dass heute große Stückzahlen der CmDongles in einer ausgefeilten, gut laufenden Produktionsstrecke produziert werden, darauf sind alle Beteiligten stolz. Seit 2021 laufen die Produktionsanlagen am Standort Karlsruhe.

Ansicht 1: Aus der virtuellen Fabrik wurde inzwischen Realität: Die fertige Produktionsstätte von Wibu-Systems am Standort Karlsruhe. (Bild: WIBU-SYSTEMS AG)

Ansicht 1: Aus der virtuellen Fabrik wurde inzwischen Realität: Die fertige Produktionsstätte von Wibu-Systems am Standort Karlsruhe. (Bild: WIBU-SYSTEMS AG)

Ansicht 2: Im Rahmen des Projekts DigiFab4KMU konnten Fertigungsinfrastruktur und Abläufe noch in der Bauphase digital optimiert werden, wie zum Beispiel die Positionierung der Liftreagle (rechts im Bild). (Bild: WIBU-SYSTEMS AG)

Ansicht 2: Im Rahmen des Projekts DigiFab4KMU konnten Fertigungsinfrastruktur und Abläufe noch in der Bauphase digital optimiert werden, wie zum Beispiel die Positionierung der Liftreagle (rechts im Bild). (Bild: WIBU-SYSTEMS AG)

Ansicht 3: Mithilfe der Simulation der Produktionslinie konnten die Maschinenarbeitsplätze und Wertströme ideal arrangiert werden, um die geforderten Zykluszeiten und Stückzahlen zu erreichen. (Bild: WIBU-SYSTEMS AG)

Ansicht 3: Mithilfe der Simulation der Produktionslinie konnten die Maschinenarbeitsplätze und Wertströme ideal arrangiert werden, um die geforderten Zykluszeiten und Stückzahlen zu erreichen. (Bild: WIBU-SYSTEMS AG)

Perspektiven der Virtualisierung

Die Expertise vom IMI hat maßgeblich zur Konfiguration der Produktionslinie bei Wibu-Systems beigetragen: „Wir konnten unser Virtualisierungssystem im Projekt einsetzen, um das Bauvorhaben und die Fabrikplanung zu verbessern. Die Technologie kann aber auch in anderen Usecases einen Mehrwert bieten, wie zum Beispiel bei der Konstruktionsvalidierung, in der Produktentwicklung sowie im Design, bei der Fertigungsplanung oder in den Bereichen Service und Schulung“, so Häfner. Die entwickelte Lösung erlaubt es, High-End-Visualisierungen als moderne Arbeitsumgebung unkompliziert zu nutzen. „Der Einsatz im industriellen Umfeld ermöglicht ein interaktives, immersives Arbeiten mit virtuellen Prototypen bei der Generierung, Validierung und Optimierung von Entwicklungsergebnissen in Verbindung mit Industrie 4.0“, ist sich Grethler sicher.

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