Veröffentlicht am 11. Dezember 2024
Präzision im Dienst der Teilchenphysik
Es ist eine Geschichte von jahrelanger Forschung, von akribischer Detailarbeit und vom festen Glauben daran, dass selbst die kleinsten Teilchen die größten Geheimnisse des Universums lüften können. Das CMS-Experiment (Compact-Muon-Solenoid) am Large Hadron Collider (LHC) im europäischen Labor für Teilchenphysik CERN bei Genf wird von einer Kollaboration betrieben, die Forschende aus der ganzen Welt vereint, um den fundamentalen Bausteinen des Universums auf die Spur zu kommen. Seitens des KIT sind Forschende des Instituts für Experimentelle Teilchenphysik (ETP) bereits viele Jahre am CMS-Experiment beteiligt, wie Professor Ulrich Husemann vom ETP berichtet: „Ich selbst bin seit 2011 Mitglied der CMS-Kollaboration. Zusammen mit meinem Team entwickeln und bauen wir spezielle Nachweisgeräte für das Experiment – genauer gesagt Teilchendetektoren.“
Großes Experiment für kleinste Teilchen
Der experimentelle Aufbau am CERN mit Teilchenbeschleuniger ist 15 Meter hoch, 25 Meter lang und enthält allerlei technisches Hightech-Equipment. Ziel der Großforschungsanlage ist, Elementarteilchen bei den höchsten derzeit im Labor verfügbaren Energien zur Kollision zu bringen und zu analysieren, was im Kleinsten vor sich geht. Der Physiker Husemann erläutert das Experiment: „Es werden pro Sekunde bis zu einer Milliarde Protonen miteinander zur Kollision gebracht. Interessant für uns sind die Kollisionen, die neue Teilchen hervorbringen, welche dann sehr schnell in bekannte Teilchen zerfallen. Wir müssen aus diesem Puzzle zusammensetzen, was passiert sein könnte, indem wir unterschiedliche Eigenschaften dieser Teilchen mit extremer Genauigkeit vermessen, zum Beispiel Entstehungsort, Impuls und Ladung sowie deren Bewegungsverlauf. Mittels Computerauswertung können wir die Spuren aller Teilchen verfolgen und damit Rückschlüsse ziehen, was für ein physikalischer Prozess da passiert sein könnte.“ Für diese Messungen werden die ersten Meter vom Punkt der Kollision mit knapp 13.000 sogenannter Spurdetektoren ausgestattet, die im Rahmen der Kollaboration weltweit von zehn Produktionszentren hergestellt werden. Das KIT ist eines der größten davon und mit einer extra eingerichteten Produktionslinie auch eine der am weitesten fortgeschrittenen Produktionsstätten für die eigens entwickelten Detektoren.
Spuren lesen
Projektleiter Husemann und sein Team haben sich mit viel Vorlauf der besonderen Herausforderung gewidmet, ein Detektormodul der nächsten Generation zu entwickeln. „Unsere Module bestehen aus speziellen Siliziumsensoren, die erstmals in Doppelschichten angeordnet sind. Über mehrere Prototypen haben wir uns in zehn Jahren Entwicklungszeit an die Lösung herangearbeitet. Die Doppellage ermöglicht uns, die Flugbahn der Teilchen sehr genau aufzuzeichnen, die mit hoher Geschwindigkeit durch den Detektor schießen. Ein geladenes durchfliegendes Teilchen hinterlässt nämlich elektrische Signale in den Elektroden der Sensorschichten. Um die Informationen über den Impuls zu bekommen, müssen wir die Durchstoßpunkte in den unterschiedlichen Lagen miteinander in Beziehung setzen“, führt Husemann weiter aus. Mit dieser Technologie lässt sich feststellen, ob sich ein Teilchen auf einer geraden Flugbahn bewegt oder ob seine Spur gekrümmt ist – eine entscheidende Information für die Physiker, um zwischen wirklich bedeutsamen Ereignissen und gewöhnlichen Kollisionen zu unterscheiden.
Extrembedingungen meistern
Die Anforderungen an solche Detektoren im subatomaren Bereich könnten kaum höher sein – von der Strahlungshärte über die Materialstabilität bis zur mechanischen Präzision. PD Dr. Frank Hartmann, der das KIT als Projektleiter für das gesamte CMS-Upgrade vor Ort vertritt, erklärt: „Die Detektionsgeräte müssen nicht nur höchst präzise arbeiten, sondern auch immense Strahlungsbelastungen überstehen und dabei exakt bleiben. Läuft die Jahre andauernde Messkampagne erstmal an, ist der Austausch von defekten Detektoren nicht mehr möglich.“ Selbst die Temperaturbeständigkeit spielt eine Rolle, denn die Module werden im späteren Betrieb auf eine Temperatur von –30 Grad Celsius gekühlt. Husemann, der die Detektorentwicklung verantwortet, betont: „Unser Ziel war es, Detektoren zu bauen, die nicht nur unter extremen Bedingungen funktionieren, sondern diese auch über Jahre hinweg zuverlässig meistern. Wir haben viel Entwicklungsarbeit investiert, um den Silizium-Sensor und die ganzen empfindlichen elektrischen Verbindungen zu den Chips für diese Anforderungen robust zu machen.“
Präzision im Mikrometerbereich
Seit diesem Jahr ist am ETP die Produktion im Gang, um bis 2026 insgesamt 2.000 Detektormodule zu fertigen. Die Produktionslinie, die Husemann mit aufgebaut hat, umfasst mehrere aufeinander abgestimmte Schritte: vom Kleben der Sensoren über die Elektromechanik bis hin zu den abschließenden Funktionstests. Husemann erläutert: „Der erste Schritt besteht darin, zwei hauchdünne Siliziumsensoren präzise zu verkleben. Wir sprechen hier von Schichten, die kaum dicker als ein Blatt Papier sind. Die Sensoren müssen exakt parallel zueinander ausgerichtet sein. Denn eine leichte Verkantung oder ein minimaler Versatz können die Funktion des gesamten Moduls beeinträchtigen.“ Um dies zu gewährleisten, hat das Team ein spezielles Messwerkzeug entwickelt. „Mit Lasertechnologie messen wir den Abstand und die Parallelität bis auf wenige Mikrometer genau“, so Husemann weiter. Ein weiterer zentraler Arbeitsschritt ist das Aufbringen feinster elektrischer Verbindungen, sogenannter Bond-Drähte, die die Chips auf den Sensoren mit der restlichen Elektronik verbinden. „Diese Drähte sind so dünn, dass schon die Berührung mit einer Hand sie beschädigen könnten. Deshalb werden sie in einen schützenden Silikonmantel eingebettet, der ebenfalls strahlenhart sein muss“, erklärt Husemann. Die Robustheit der Materialien ist entscheidend, damit die Detektoren im Experiment über zehn Jahre lang einer hohen Strahlenbelastung standhalten, ohne ihre Funktionalität zu verlieren.
In sieben Tagen zum Modul
Die Produktionslinie im Reinraum vereint modernste Technologie mit Ingenieurskunst: „Der Aufbau der Produktionslinie war eine Herausforderung. Wir mussten viele unserer Werkzeuge und Testsysteme selbst entwickeln, da die Anforderungen so spezifisch sind“, berichtet Husemann. Jeder Arbeitsschritt ist darauf ausgelegt, höchste Qualität zu gewährleisten und die Anforderungen der Teilchenphysik zu erfüllen. „Wir haben die Produktion so aufgebaut, dass täglich neue Module in die Fertigung gegeben werden, wodurch eine kontinuierliche Auslastung gewährleistet ist. Es dauert insgesamt sieben bis acht Tage mit mehreren Klebe- und Aushärtezeiten bis ein Modul vollständig aufgebaut ist. Bevor es den Reinraum verlässt, wird es umfassend getestet. Mit unserem Prozess stellen wir sicher, dass jedes Bauteil den extremen Bedingungen am CERN standhält“, macht Husemann deutlich.
Die Grenzen der Erkenntnis verschieben
Für die Forschenden vom KIT ist die Arbeit am Detektor mehr als nur ein technisches Projekt – es ist eine Mission, die die Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis erweitert. Die am KIT produzierten Detektoren werden ab 2030 Teil des CMS-Experiments am CERN sein, wo sie helfen sollen, die grundlegenden Kräfte des Universums zu entschlüsseln. Hartmann, der den Einbau in der Schweiz koordiniert, verdeutlicht den Stellenwert: „Die Spurdetektoren sind ein zentraler Baustein für den Erfolg des CMS-Experiments am CERN. Sie ermöglichen es uns, subatomare Teilchen mit einer bisher unerreichten Präzision zu messen. Wir stehen immer wieder vor Herausforderungen, aber das ist es, was unsere Arbeit so spannend macht.“
Die Expertise aus Karlsruhe geht über die Teilchenphysik hinaus. Husemann erwähnt Projekte, bei denen das Wissen aus der Detektorentwicklung für medizinische Zwecke genutzt wird, etwa in der Strahlentherapie: „Wir haben beispielsweise begonnen, Detektoren für das Ionenstrahlzentrum in Heidelberg zu entwickeln“, erklärt er. Neben der Forschung hebt Husemann hervor, dass das Projekt die beteiligten Mitarbeitenden auch auf spätere Aufgaben in der Industrie gut vorbereitet. „Was unsere Arbeit besonders macht, ist die Kombination aus handwerklicher Präzision und der Fähigkeit, innovative Lösungen für bisher ungelöste Herausforderungen zu finden – eine Qualität unserer Promovierenden. Unsere Mitarbeitenden lernen hier nicht nur die Grundlagen der Physik. Sie arbeiten an hochmodernen Systemen, die technologische Innovationen und komplexe Entwicklungsprozesse vereinen.“
Kommentare zu diesem Artikel
Keine Kommentare